Edvard Hoem: Der Geigenbauer

  Ein Leben voller Überraschungen

Hoem

Der Geigenbauer ist ein weiterer Teil aus der Familienchronik von Edvard Hoem, von der auf Deutsch bisher Heimatland. Kindheit (Original 1985, übersetzt 2009), Die Geschichte von Mutter und Vater (2005 bzw. 2007) und Die Hebamme (2018 bzw. 2021) vorliegen. In Norwegen sind diese historischen Romane Bestseller, denn sie sind nicht nur Porträt des Verfassers und seiner Vorfahren, sondern zugleich Dokumente zur westnorwegischen bäuerlichen Gesellschaft ihrer Zeit mit unvergesslichen Naturbeschreibungen. Auf mich üben diese Romane eine solch große Faszination aus, dass ich im Sommer 2022 einige der Originalschauplätze nahe Molde besucht habe: den Hof, auf dem Edvard Hoem aufwuchs, und dessen Erbe er zugunsten der Schriftstellerei ausschlug, die Kirche seiner Kindheit, den Friedhof mit dem Grab der Eltern und den Romsdalsfjord. Dass ich mit Kristiansund unwissentlich auch in der Stadt war, die dem Geigenbauer Lars Olsen Hoem zur langjährigen Heimat wurde, hat mich nun besonders gefreut.

Kristiansund heute. © M. Busch

Wahrheit und Fantasie
Der Geigenbauer und Vorfahr Lars Olsen Hoem spielte schon in der Kindheit des kleinen Edvard eine Rolle in den Erzählungen seines Großvaters und wird in Heimatland. Kindheit erwähnt. Im Familiengedächtnis blieb einerseits sein abenteuerlicher Lebenswandel, andererseits sein über 50 Jahre währendes Zerwürfnis mit seinem älteren Halbbruder Pe, an dessen Unschuld beim mysteriösen Verschwinden der Dienstmagd Guri Lars trotz dessen gerichtlichen Freispruchs 1792 immer zweifelte. Fast 40 Jahre nach dem Erscheinen von Heimatland. Kindheit hat Edvard Hoem für Der Geigenbauer Archivmaterial, Kirchenbücher, Nachlassverzeichnisse, Stammrollen, Gefangenverzeichnisse, Zeitungsartikel, Augenzeugenberichte sowie Literatur zum Geigenbau und lokalhistorische Arbeiten aus dem frühen 19. Jahrhundert befragt und Fakten zusammengetragen, die er wie immer mit Fantasie ergänzte, größtmögliche Nähe anstrebend.

© B. Busch

Wenn alles anders kommt
Lars Olsen Hoem wurde 1782 als Bauernsohn an der norwegischen Westküste geboren und träumte als Jugendlicher von einer eigenen Schute. 1801 wurde er einberufen, als Dänemark-Norwegen an der Seite Napoleons gegen England kämpfte, und nach einem 40-tägigen Marsch von Molde nach Schonen in der Seeschlacht von Kopenhagen als Ruderer eingesetzt. 1809 geriet er mit einem Getreideschiff in Höhe des Nordkaps in englische Gefangenschaft und wurde mehr als fünf Jahre auf Gefangenenschiffen festgehalten. Hier begegnete der musikbegeisterte Mann einem französischen Geigenbauer und lernte dessen Handwerk. Als Lars 1814 endlich nach Hause zurückkehrte, heiratet er Gunhild, bekam mit ihr sieben Töchter, lebte ab 1822 in Smedvika auf Nordlandet in Kristiansund und baute bis zu seinem Tod 1852 über 500 Geigen, von denen etwa 30 erhalten blieben.

„Klippfiskkjerringa“ – Denkmal für die Klippfischfrauen in Kristiansund von Tore Bjørn Skjølsvik. © B. Busch

Ein magischer Erzähler
Niemand beschwört die Vergangenheit ähnlich gut herauf wie der 1949 nahe Molde geborene Schriftsteller, Theaterregisseur und Shakespeare-Übersetzer Edvard Hoem. Er malt ein buntes Bild des 19. Jahrhunderts, lässt Klänge, Gerüche und Farben entstehen und schildert mit viel Zuneigung die tiefgreifenden Auswirkungen der Weltpolitik auf die Menschen an der Westküste und ihr beschwerliches Leben. Herausragend  sind die Abschnitte über den Geigenbau und die beschwerliche, gesundheitsschädliche Tätigkeit der „Klippfischfrauen“, die wie Gunhild auf den Felsen um Kristiansund Trockenfisch zum Export herstellten, außerdem die über die religiöse Strömung um den Erweckungsprediger Hans Nielsen Hauge (1771 – 1824), die in späteren Generationen der Familie Hoem große Bedeutung erlangte.

Eine große Leseempfehlung!

Edvard Hoem: Der Geigenbauer. Aus dem Norwegischen von Antje Subey-Cramer. Urachhaus 2022
www.urachhaus.de

 

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